Ecuador 2022


Tag 2

Nachdem ich wirklich nicht gut geschlafen hatte, nahm ich mir morgens Zeit, die
Nachrichten anzuschauen. In Quito griffen Polizei und Militär gestern massiv die Universität an und das Viertel in dem sich das indigene Kukturzentrum befindet. Es gab an vielen Orten der Stadt heftige Auseinandersetzungen zwischen kämpfenden sozialen Bewegungen und der
Polizei und dem Militär. Es waren nachts hunderte brennende Barrikaden und Straßensperren. Quito ist auf keiner Straße mehr per Auto oder LKW erreichbar. Eine Millionenstadt, muss man sich mal vorstellen.
In Puyo im Amazonastiefland wurde gestern ein Demonstrant aus kurzer Distanz mit einer Tränengasgranate in den Kopf geschossen. Er war sofort tot. Daraufhin eskalierte die Situation dort. Polizeiautos wurden angezündet, zwei Polizisten in ein unbekanntes Dorf verschleppt,
die Bankfiliale der "Banco De Guayaquil" (welche dem Präsidenten Lasso gehört) wurde angezündet, ebenso die Polizeiwache und die Militärstation. Die Innenstadt ist durch stundenlange Auseinandersetzungen komplett verwüstet worden.
Außerdem wurde bekannt, dass ein Taxifahrer am vergangenen Freitag bei einer Streikdemonstration von Polizisten die die Demonstration mit massivem Beschuss (Gasgranaten und Schockgranaten) von einer Mauer auf der er stand in einer Schlucht "geschossen" wurde. Auch er verstarb sofort.
Im gesamten Land wurden hunderte neue Straßensperren durch revoltierende Menschen errichtet. Der Busverkehr wurden komplett eingestellt. Restaurants sind fast vollständig geschlossen, ebenso wie der Einzelhandel. In den beiden größten Städten Quito und Guayaquil sowie in vielen Provinzen gibt es kein Benzin mehr. Obst und Gemüse sind nirgends mehr
im Land zu bekommen, der Verkehr ist überall komplett zusammengebrochen.
Das von der Polizei geschlossene indigene Kulturzentrum in Quito (ein Symbol des Kampfes der letzten Jahzehnte) wird trotz gegenteiligem Beschluss des Parlamentes weiterhin von Polizei und Militär besetzt gehalten. Auch hier gibt es massive Strassenschlachten. Der Präsident Lasso geht immer noch nicht weiter auf die weitgehenden Forderungen der Bewegung ein.

 

Unser Ziel für heute war es, die Provinzstadt Tena zu erreichen. Dort wollen wir die kommenden 7 Tage wohnen, um uns mit den Kooperativen Jatari und Waylla Kuri zu treffen. Beide haben sich dem Streik angeschlossen und ebenfalls alle Straßen um ihre Dörfer herum blockiert. Tena liegt ca. 180 Straßenkilometer weit östlich vom Flughafen. Man muss dorthin  über den 4100 m hohen Papallakta-Pass fahren und dann 3800 m bergab ins Amazonastiefland.
Normalerweise würden wir von der Stadt Pifo (10 km von unserem Hotel entfernt) mit einem der Linienbusse, die alle 15-30 Minuten diese Strecke fahren, direkt innerhalb von ca. 6 bis 7 Stunden dorthin kommen. Busse fahren aber derzeit nicht. In ganz Ecuador nicht.
Also fuhren wir gegen 8 Uhr mit einem ersten Taxi nach Pifo, die Lage abchecken und herausfinden welche Transportmittel überhaupt noch fahren. Das Ergebnis war ernüchternd: Nichts fährt. Auf der 10km langen Strecke nach Pifo aber  brennen immer noch 6 Barrikaden von
letzter Nacht. Und überall Militär und Polizei.
Wir handelten mit einem Taxifahrer einen guten Preis für die ersten 80 km nach Baeza aus. Da es wirklich gar keinen Verkehr auf dieser ansonsten mit zig Trucks und Bussen verstopften Straße gab, kamen wir innerhalb von einer Rekordzeit von 80 Minuten in Endzeitstimmung dort
an. Und aßen im einzigen geöffneten Imbiss-Restaurant gebackene gestampfte grüne Banana mit Ei und Käse.
Gestärkt verhandelten wir mit einem nächsten Taxifahrer (der erste wollte auf keinen Fall weiter und schnell zurück nach Otavalo zu seiner Familie) einen guten Preis für die Fahrt bis zur ersten "ernsten" Straßensperre aus. Diese kam nach ca. 60 weiteren Kilometern nördlich der Stadt
Archidona. Bis dahin mussten wir 6 kleinere Strassensperren (Bäume, brennende Reifen, kleine Gruppen Personen mit Lanzen und Macheten) passieren. Das ging einfach. Ein kurzes Gespräch und 50 Cent oder einen Dollar auf die Hand. Wir sind ja nur ein kleines Auto mit drei exotisch
europäischen solidarischen Reisenden. Die Sperre vor Archidona war dann schon ein anderes Ding. Also aussteigen und zu Fuß weiter. Kurzes Gespräch mit einer Erklärung wer wir sind und weiter geht es zu Fuß über drei größere Sperren in ca. 3 km. Danach fragten wir den Fahrer des
ersten Autos das wir sahen. Ein Pickup aus Tena von einem in der indigenen Bewegung bekannten solidarische Fahrer. Auf der Ladefläche des Pick-Ups ging es durch ca. 6-8 weitere Sperren, überall mit Bäumen, brennenden Reifen, Lanzen, Knüppeln und Macheten.

Um 13 Uhr kamen wir in Tena an. Unglaublich, wir hätten nie damit gerechnet. Wirklich spannend war auch, dass alle 4 Fahrer, obwohl der Streik gegen ihre individuellen ökonomischen Interessen steht (es gibt keine wirklichen Möglichkeiten Leute irgendwo hin zu fahren) zu 100 %
hinter dem Streik standen. Der korrupte Präsident muss weg, die Indigenen haben Recht mit ihren recht radikalen Forderungen. Insbesondere der zerstörerische Bergbau muss beendet werden und die Preise für eigene Erzeugnisse sollen steigen. Angeblich soll es heute auf Initiative von 300 bürgerlichen Gruppen und Verbänden eine erste direkte Verhandlung geben zwischen Iza und Lasso.
Wir erholten uns in Tena bei Spaziergängen und bei frisch gespresstem Saft der herrlichen Früchte der Region. Morgen früh wollen wir versuchen mit einem Taxi auf Feldwegen unter Umgehung der größten Barrikaden zu unseren Freund*innen von Waylla Kuri zu fahren.